IndiviDuo

IndiviDuo ein ander hören
IndiviDuo
Rike Kohlhepp (Violine, Viola, Stimme), Thomas Reuter (Klavier, Stimme)
Konzertlivemitschnitt Januar 2002, in Kassel



Trackliste:

1. Suite I - 1. Satz
2. 2. Satz
3. 3. Satz
4. 4. Satz
5. 5. Satz
6. Lange Weile

7. Suite II - 1. Satz
8. 2. Satz
9. 3. Satz
10. 4. Satz
11. 5. Satz
12. allein

13. Töne? Worte?

14. Intermezzo

15. Die Fahrenden

IndiviDuo Rike Kohlhepp
Geigenstudium in Alfter und Würzburg. Studium der Freien Musik. 1998 Gründung des "IndiviDuo" und Mitglied der "Gruppe Freie Musik Dresden". 2001 nominiert für das 6. Nachwuchsforum der Gesellschaft für Neue Musik. Konzerttätigkeit als Geigerin und Bratschistin; Kursleiterin für Freie Musik. Lebt in Kassel und leitet die dortige Geschäftsstelle des Deutschen Institutes für Improvisation.

Thomas Reuter
Studium in Leipzig: Komposition, Dirigieren, Klavier. Musikpädagogische und kompositorische Tätigkeit in Halle/Saale. Mitbegründung der "Gruppe Freie Musik Dresden." Kompositionspreis "Hans Stieber," Halle; Händelpreis der Stadt Halle. 1998 Gründung des "IndiviDuo". Konzerttätigkeit als Pianist; Chorleiter und Kursleiter für Improvisation. Lebt in Hannover.

Die hier vorliegende Aufnahme gibt das Konzert vom 30. Januar 2002 wieder - bis auf einen Programmpunkt, der sich wegen seiner räumlich-optischen, experimentellen Art nicht für die CD geeignet hätte. Folgende Vereinbarungen lagen zugrunde:

Suite I
Eine Folge von frei gestalteten Sätzen mit Geige und Klavier (gelegentlich Stimmen), jeder Satz mit eigenem Charakter. Die Aufmerksamkeit richtet sich besonders auf das Zusammenspiel unter Aspekten wie Artikulation, Dynamik, Klangfarben und Strukturierung.

Lange Weile
Sehr allmähliche Verwandlungen in einem Satz für RiKoBra (siehe weiter unten) und Klavier, auch Stimmen. Grundlegend sind innere Ruhe, das Gefühl Zeit zu haben, Absichtslosigkeit. Etwa in der zeitlichen Mitte kommt das Prinzip der nur minimalen Veränderungen am stärksten zur Geltung.

Suite II
Wieder eine Folge von freien charakteristischen Sätzen für Klavier und Geige sowie Stimmen, diesmal mit besonderem Interesse an verschiedenen Qualitäten des Rhythmus und der Bewegung.

allein
Die Geigerin im Publikum, der Pianist auf der Bühne, spielt jeder weitgehend unabhängig solistisch. Dieses Zusammenkommen scheinbar beziehungsloser, tatsächlich aber auf subtile Weise zusammenhängender Vorgänge nennen wir "konstellatives Spiel."

Töne? Worte?
Teile mit improvisatorisch behandelten Sprachelementen wechseln mit Instrumentalteilen, die stark durch inneres Hören und Konzentration auf Weniges geprägt sind.
Intermezzo
Freies Spiel mit Flügel und RiKoBra, einsätzig, mit Aufmerksamkeit auf den Verlauf der Klangfarben.

Die Fahrenden
Ausgehend vom Prinzip der sich fortwährend variierenden Bewegung, durchziehen wir mit Geige und Klavier mehrere "musikalische Gewässer" und landen zwischendurch auf "Stimminseln". Diese Reise ist Inhalt eines durchgehenden Satzes.


FREIE MUSIK

Freie Musik ist Improvisation. Wir spielen weder von Noten noch aus dem Gedächtnis, sondern aus der Stille, aus dem Hören, aus der Aktualität der Situation, allerdings auch aus musikalischer Erfahrung und aus Freude an künstlerischer Lebendigkeit.
Wir sind Interpret und Komponist zugleich, ja auch unser eigener Lehrer, indem wir uns Aufgaben stellen. Diese zielen aber nicht in erster Linie auf bereits fixierte Formen, im Gegensatz zum herkömmlichen Begriff der Improvisation, wo es um das jeweilige Ausgestalten einer vorgegebenen Form geht, zum Beispiel eines Variationszyklus oder gar einer Fuge.
Es ist uns Bedürfnis, bestimmte Aspekte des Musikalischen besonders in die Aufmerksamkeit zu nehmen. So konzentrieren wir uns auf den Klang, das Zusammenwirken der Töne, das Miteinander der Rhythmen und Strukturen. Diese unterschiedlichen, reichen musikalischen Welten wirken aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Aus der Achtsamkeit auf die Nuancen, also aus der Frage, wie die Details verknüpft werden und einen Sinn ergeben, entsteht im Vollzug die Gesamtgestalt. Nicht indem wir diese im Vorhinein schon absichtsvoll prägen, doch indem wir unser Bewußtsein für das Wahrnehmen bewegter Gestalten in der Zeit schulen.
Der Prozeß wird also nicht der Beliebigkeit überlassen, da immer aktuell entschieden wird, wie man sich verhält. Je inniger ich mich mit einem Zusammenhang vertraut mache, wie beispielsweise dem Tonsystem in seiner Komplexität, desto gezielter kann ich geistesgegenwärtig handeln.
Das lustvoll-strenge Ausloten der Aufgaben schließt jedoch Spontaneität und Interesse an der Wirksamkeit des Zufalls nicht aus. Die Offenheit für unvorhergesehene Ereignisse, für überraschende Zusammentreffen erweitert die Vorstellungen des inneren Hörens; auch die Entdeckung neuer instrumentaler Spielmöglichkeiten kann fruchtbar werden, wenn dem Musikalischen mit fragender Haltung begegnet wird. Indem ich hingegen schon alles zu kennen meine, laufe ich Gefahr, in meinen Gewohnheiten und meiner eigenen Enge zu stagnieren. So versuchen wir die Aufgaben bei aller Genauigkeit mit künstlerischer Präsenz aufzufassen, innerlich offen und weit zu werden und mit der uns möglichen Aufmerksamkeit wahrhaftig zu musizieren, uns also existentiell mit unserem Tun zu verbinden, daß die Musik, die wir spielen, wir selber sind.
Für diesen Vorgang ist entscheidend neben der Frage, was wir spielen, wie wir spielen. Wie das Spiel im einzelnen lebt, ist mit Worten und Buchstaben nur unzureichend zu beschreiben; spreche ich von einem leisen und kurzen Ton, so sagt das noch nichts über die Art dieses Leisen und Kurzen aus. Die Qualitäten sind so übergänglich, unnachahmlich und vom Zusammenhang des Geschehens abhängig, finden in so feinen Verhältnissen und Mischungen des Klanges, der Artikulation, der Dynamik, des Rhythmischen statt, daß sie ihre Lebendigkeit nur durch die einfühlsame, eigenverantwortliche Arbeit des Spielers entfalten können. Auch bei der Realisierung eines kompositorischen Werkes bleibt dem Spieler also noch ein großer Anteil an improvisatorischer Freiheit. Indem wir aber ohne werkhafte Vorlage, also völlig frei und eigenverantwortlich spielen, gewinnt der Umgang mit dem ungeheuren Reichtum der Qualitäten einen äußerst hohen Stellenwert. Für das künstlerische Erleben sind Was und Wie nicht mehr zu trennen; dies ist ein Grund, weshalb wir frei improvisieren.
Oft kommt es bei uns zu ungewöhnlichen Ausdrucksweisen, indem nicht nur den Instrumenten, sondern auch den Stimmen die verschiedensten Klangqualitäten entlockt werden, oder indem auch Sprache auf unterschiedliche Art ins Geschehen einfließt. Rike Kohlhepp benutzt gelegentlich eine anders besaitete Bratsche mit nach unten erweitertem Tonumpfang: die RiKoBra. Nicht selten werden Töne in ihren Schwingungsverhältnissen untereinander verändert, sodaß das Tonsystem durch "variable Tonhöhen" erweitert wird. Jedoch beschränken wir uns auf rein akustische Mittel; Live-Elektronik u. dgl. kommt nicht zum Einsatz.

Für die Gestaltung eines Konzertprogrammes vereinbaren wir lediglich eine Folge von grundsätzlichen Improvisationsaufgaben, deren Realisierung bei jeder Aufführung sehr verschieden ausfallen kann und soll. Diese Aufgaben entwickeln sich im Laufe der Zeit aus unserer Probenarbeit, die wir als permanente "künstlerische Forschung" betreiben.

Rike Kohlhepp und Thomas Reuter

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